Spalter – Hand

Wie ich meine Rechte wieder schätzen und lieben lernte.

Es ist nur ein Augenblick, eine harmlose Entscheidung, schon ist dein Leben gespalten, in:
Davor / Danach.

Prolog

Endlich ist es warm geworden. Die kahlen Äste wieder Grün, Bienen und fette Hummeln summen um Gänseblümchen und Löwenzahn. Gerade hast du beim Nachbarn einen Espresso getrunken, jetzt geht wieder jeder an sein Tagwerk.

Du zurück in deinen Garten. Wo schon alles für einen gemütlichen Samstagnachmittag in der Sonne bereitet ist: Bequemer Sessel, Notebook, Zeichenblock, neues Buch, Brotzeit, Knabberzeug, Bionade.

Der Nachbar hängt sich wieder an den, im Kollektiv gekauften, hydraulischen Holzspalter (Binderberger H10, 10 t Spaltkraft). Wie er es schon seit zwei Wochen (42 Betriebsstunden!) lang tut, damit er seine 14 Festmeter Brennholz endlich kleinkriegt. Mittlerweile betet halb Altjoch darum, dass er endlich fertig wird, das ewige Gesurre der Hydraulikpumpe ein Ende hat!

Im Bach kühlt bereits das Bier für den Abend, wenn Herzblatt, Nichten, Schwester, Schwager, Freunde und Nachbarn zum Grillen kommen. Geschmeidig den Tag am Lagerfeuer ausklingen lassen, so ist der Plan.

Spalter

„Übrigens…“ ruft er dir noch nach, der Nachbar.

Du bleibst auf der Brücke stehen, drehst dich um: „Ha?“

Ja, sagen wollte er dir noch, dass der Hydraulikzylinder ausspeibt (sich lockert), wenn der Spaltkeil im Brennholz klemmt und man mit der Axt kräftig auf den Klotz haut.

Spalter

Also machst du kehrt, um die Sache genauer zu betrachten. Ein Schwachpunkt in der Konstruktion eures Spalters ist die Rille am unteren Ende des Hydraulikzylinders, die nur drei Millimeter tief ist. In Arbeitsstellung greifen da von Links und Rechts zwei Metallplatten ein und halten die schwere Hydraulik in knapp eineinhalb Meter Arbeitshöhe, damit sich der Spaltkeil durch den darunter platzierten Brennholzklotz pressen kann.

Spalter_ZylinderVerriegelung

Zwei kleine Hebelchen fixieren diese Platten in ihrer Position. Und das rechte Hebelchen legst du nun um, um dem Nachbarn zu zeigen, von welch geringer Fläche die Hydraulik oben gehalten wird. Jetzt auf einer Seite ohne Halt, hängt der Zylinder ein bisschen schief. Beherzt greifst du mit beiden Händen hoch, rüttelst am Zylinder, damit die Platte wieder in die Rille gleitet. Schiebst dadurch aber jetzt bloß auch noch die linke Platte aus der Nut. Nun beiderseits ohne Halt, saust der Zylinder ohne Vorwarnung nach unten. An seinem oberen Ende ist ein, vielleicht zehn Zentimeter breiter, Querriegel montiert. Wie ein Fallbeil fetzt er dir zwischen Damen und Zeigefinger durch die rechte Hand – interdigital werden sie es später nennen.

Doch zunächst spürst du nur einen leichten Stich. Denkst noch: “Mist, jetzt hast du dich aufg’rissn“. Schaust dir daraufhin die Hand genauer an und blickst ungläubig in ein tiefes, rotes Fleischloch! Blitzartige Erkenntnis: Ein Pflaster reicht hier nimmer.

„So ah Scheißdreck!“ rufst du: „Hob mi aufg’rißn! Brauch Verband!“

„Wos? Wart! I fahr di glei nach Murnau.“ (Weil dort das Unfallkrankenhaus ist)

„Schmarrn! Notarzt! Ruf den NOTARZT! Verband!“ scheuchst du den Nachbarn davon.

Druckverband! Schießt es dir durch den Kopf. Druckverband, hochhalten, sonst verbluten.

Du rennst hinter dem Nachbarn her. Schnappst dir aus seiner Küche ein Handtuch. Kannst endlich was auf die Wunde pressen. „Wo bleibt der VERBAND!“

„Ja hier Allgäuer. Wir hamm hier einen Holzunfall…“

Die Nachbarin stolpert die Kellertreppe hoch: „I hob doch erst suchen müss’n.“ Hält dir einen Plastikbeutel mit allerlei Binden, Kompressen, Dreieckstüchern entgegen: „I kenn mi ja gar nicht aus, was des alles is.“

„Her damit!“ Du reißt ihr ein Mullpäckchen aus den Händen, zerfetzt die Verpackung mit den Zähnen. Draufdrücken! Noch eins! Mull drumherum wickeln, fest! Hochhalten!

Endlich ist die Wunde versorgt. Mit hochgerecktem Arm stolperst du wieder in den Garten. Du weißt, lässt die Anspannung nach, kommt die Ohnmacht. Merkst schon, wie sie pelzig den Rücken hoch kriecht, sich dein Sichtfeld einengt, es in den Ohren hallt, die Knie weich werden. “I muss mich hinlegen! Deck’n! I brauch a DECKE!“ Herrgott! Bis die Nachbarn was kapieren! Schon springt die Nachbarin aus der Garage, wirft eine Wolldecke vor dir ins Gras. Der Nachbar verschwindet zum Gartentor, auf den Sanka wartend, raus aus der Schusslinie.

Jetzt liegst du da. Barfuß, blutbespritzt. Nichts mehr zu tun. Warten. Bestandsaufnahme. Alle Finger lassen sich noch bewegen, haben Gefühl, keiner ist taub. In der Ferne hörst du schon das Sanka-Horn.

„Mei, Maria, ich brauch ja noch mei Krankenkarte und ein Gwand. Könnst du bitte nochmal rüber schaun zu mir?“ (Entspannung macht höflich)

„Aber ich weiß doch gar nicht, wo du das all‘s hast!“

„Kruzifix, des ist doch wurscht! Reiß einfach alle Schubläden auf. Ich kann doch jetzt nicht weg, wenn gleich der Sanka kommt. Des musst doch einsehn. Und mein Handy brauch ich auch!“

Sanka

Schon hörst den Nachbarn am Gartentürl: „Dass ihr so schnell da seid’s?!“

Zwei Sanitäter tauchen auf, ein hagerer Großer, ein kleiner Runder – Pat und Patachon. Du liegst im Gras, die Rechte ausgestreckt, stellst gleich klar: „Ich bin nur verletzt, kein Nazi nicht!“

Die Beiden packen ihr Werkzeug aus. Ungefragt bringt der Nachbar noch eine Roßdecke: „Damit‘s ihr nicht im Dreck knien müsst‘s, mit eurem schönen Gwand.“ Aha, da geht‘s auf einmal von selber.

Patachon schneidet deinen Verband auf. Pat zwickt und klopft am linken Handrücken rum, schiebt eine Kanüle in deine Vene, Generalanschluss. Sie (du nicht) begutachten die Wunde. Schaut angeblich gar nicht so schlimm aus. Du schilderst wie es passiert ist. Nein, nicht mit der Schneide des Spaltkeils, die Hydraulik hat zugebissen. Die Notärztin kommt dazu. Passenderweise gelernte Handchirurgin. Auch sie inspiziert. Nein, nicht der Spaltkeil, der Zylinder, von oben – runter. Man stellt eine Trage neben dich. Draufkriechen musst du selber. Festschnallen, Hochheben, Räder einrasten. Rumpelnd geht‘s über das grob gefugte Katzenkopfpflaster des Nachbar-Hofs, rein in den Sanka. Geschwind wirft dir die Nachbarin noch deinen Rucksack dazu, drückt dir das Smartphone in die Hand.

Der hohe Sanka-Kasten schwankt wie eine alte Postkutsche. Routinierte Hände zapfen dir Blut ab, ziehen eine Blutdruckmanschette über den linken Arm, stöpseln eine Infusion an, stecken dir einen Sauerstoff-Schlauch ins linke Nasenloch. Aber schon ein paar hundert Meter weiter ist wieder Stillstand. Hektischer Funkverkehr. Brandmeldung in Peißenberg: „I glaub, der in der Rettungsleite ist heut a bissl überfordert.“ Die Notärztin hängt sich ans Handy, spricht mit ihren Spezln im UKM. Dort ist aber heut (wie immer) der Teufel los: Samstag – schönes Wetter – Heimwerkertag – Hände für Murnau. Auf deinen Vorschlag hin, wo sie doch eh vom Fach wär, die Hand bei dir in der Werkstatt zu flicken, verdreht sie bloß die Augen.

Pat überbrückt die Wartezeit mit einem Fragebogen:

Name?

Adresse?

Geburtsdatum?

Allgemeines Lob, wie gut du dich gehalten – für dein Alter. Bist aber nicht ihr Rekord, der liegt heute bei 103 Lenzen, Kreislaufschwäche.

„Beruf?“

„Redakteur“

„Wo?“

„CHIP“

„Auweh, der Feind!“

Es stellt sich raus, Pat war bis vor kurzem Redakteur beim großen Rivalen IDG-Verlag (PC-Welt, Gamestar und all solch Zeug). Ein ganz berühmter noch dazu: C64-Programmierer der ersten Stunde, eigener Wikipedia-Eintrag. Immerhin kennt er auch Sohn #1 und ihr vereinbart, via Facebook soll er jenen schonend über deinen Zustand informieren, Sanka-Selfie inklusive.

UKM

Im UKM darfst du wieder selber von der Roll-Trage auf ein Roll-Bett kriechen. Verband wird aufgeschnitten, Wunde inspiziert (nicht von dir), Unfallhergang geschildert: Nicht die Schneide, der Zylinder war‘s. Jetzt noch schnell zum Röntgen, dann sollst du gleich operiert werden. Jedoch im letzten Moment nimmt dir eine halb mit der Kreissäge durchgesägte Hand die Vorfahrt.

UKM

Kommst du also in den Schockraum daneben, wo eine nette Schwester die Zeit mit einem Fragebogen vertreibt: Name? Adresse? Geburt? Größe? Gewicht? Akute Krankheiten? Allergien? Medikamente? Prothesen? Letzte Mahlzeit?

Durch die spaltbreit offene Verbindungstür hörst du vermutlich die Anästhesistin mit Sägehand diskutieren: „Sie haben eine schwere Verletzung, die müssen wir operieren, jetzt! … Sie sind Risiko … Vollnarkose trotzdem … aber das habe ich ihnen doch gerade erklärt … Ihre Hand ist zur Hälfte durch …“ Am liebsten würdest du rüberbrüllen: „Dann lass halt mich auf’n OP-Tisch, wenn’st dich nicht traust, du Schwammerl!“

Christoph

Doch da wirst du durch neuen Besuch abgelenkt. Ein schlanker „Jürgen von der Lippe“, mit Klobrillen-Bart, tritt an deine Lagerstatt. „Wir werden Sie jetzt nach München fliegen.“ Grinst er und winkt seine Knechte mit der Rolltrage her, auf die du wieder selber rübergleiten sollst und beinah in den Spalt dazwischen rutscht. „Jetzt, wo ich mich grad eing’wöhnt hätt!“ Maulst du: „Vergesst’s mein Rucksack nicht! Das ist alles, was ich noch hab!“ An vier traurigen Gestalten, beiderlei Geschlechts, mal rechts mal links die Hände bandagiert, vorbei wirst du zum Helikopter geschoben. „Ciao, ihr Hände!“ Rufst du ihnen fröhlich zu, erntest aber nur leere Blicke.

Helitrage

Ob du Rechtshänder? Was von Beruf? Eröffnet Klobrille den Smalltalk. „Redakteur? So so! Naja, dank Siri ist selber tippen inzwischen gar nicht mehr nötig!“

„Apple is was für Mädchen!“ raunzt du ihm entgegen.

„Wenigstens baut Apple funktionierende Systeme!“ pariert er scharf!

Aha, Apple-iAner! Den Rest des Fluges verbringt ihr beide schweigend.

Mit Hubschrauberflügen kennst du dich aus, hast du schließlich schon etliche Mal mitgemacht: Höglwald, Sylvenstein, Malibu, Elmau. Beim Start rüttelt es dich heftig durch, dann steigt die Mühle in die Höhe, kippt etwas die Nase nach unten und zischt ab. Für so einen nagelneuen Christoph (angeblich der Mercedes unter den Kaffeemühlen) dürfte die Strecke zum Rechts der Isar ein Katzensprung sein, keine Viertelstund – denkst du. Aber dann hängt ihr in gefühlten 1.000 Metern erst einmal schaukelnd in der Luft. Zwischen den Beinen durch siehst du den Staffelsee, durchs linke Fenster das schneebedeckte Estergebirge. Nichts geht weiter. Keiner sagt dir was. Gerade kannst du noch ein paar Selfies machen, dann nimmt dir Klobrille schon das Smartphone weg, drückt dir dafür eine Infusion in die Hand.

Während du so in der Luft hängst, kommt dir schreckhaft in den Sinn, wie sehr dir an deiner Rechten liegt: Schreiben, malen, zeichnen, schreinern, kochen, lieben – wenn dies nun alles vorbei sein soll? Rasch bewegst du alle Finger, streichst mit der Linken über alle Kuppen.

Mag schon sein, dass der Christoph ein Supermoderner ist, inwendig ist er jedenfalls eine arge Rumpelkiste und eher als Lanz denn als Benz schaukelt zum Dach vom „Rechts der Isar“.

ImChristoph

Rechts der Isar

Beim Ausladen wärst du beinahe von der Trage gekippt, wegen der Schlagseite die sie bekommt, wenn man sie nicht daaaa anhebt und soooo in das Fahrgestell reinschiebt, wie es Klobrille den Kollegen schon xmal gepredigt hat – aber es hört ja keiner zu!

Diesmal empfängt dich ein junger Typ mit Wiener Näsel-Slang als behandelnder Aufschneider. Er wollte grad zum Sport, darum pressiert’s. Weil auf den Murnauer Bildern eventuell ein Fremdkörper (Metall wäre gut, Holz semioptimal) zu sehen ist, will er dich nochmal röntgen, dann darfst schnell zum bieseln und um „18:15 leg’n mia los, Herr Kaiser!“

„Jäger!“

„Jäger – wurscht! Letzte Mahlzeit?“

„Mei, so zwischen Eins und Zwei.“

„12 Uhr 30!“

Flugs macht er sich mit dem iPhone ein paar Bilder von deiner offenen Hand und engagiert den Oberarzt als Assistenten. Als erster erfasst er auch, dass dein Loch nicht bei der Handhabung, sondern der Wartung des Spalters entstanden ist. Das merkst du dir.

Mit irgendwas Kugelschreiber-artigem berührt er nacheinander deine Finger und du musst sagen „spitz“ oder „stumpf“ und wenn du nicht gleich reagiert, dann sticht er so fest rein, bis er ein spitzes „AUA!“ hört.

Der Fremdkörper wird als Metallsplitter identifiziert, aber statt gleich ins Nähzimmer wirst du vom Näsel persönlich nun doch erst mal auf Station 1/5 geschoben. Aus den Augenwinkeln siehts du nur, wie etwas Grölendes in Begleitung zweier Polizisten in deinen OP geschoben wird. Wie gesagt: Biergartenwetter, Heimwerkertag! Und das RdI ist im Umkreis bekannt und beliebt ob seiner Handchirurgie.

Kaum aus dem Lift raus, hörst du schon die Stationsschwester: „Ja? Kommt gerade rein! Muss auflegen!“ Aha, Sohn #1 hat dich schon aufgespürt. Tja, wer solche Kinder hat, braucht keine NSA mehr. Du kommst in ein Vier-Bett-Zimmer an den Fensterplatz. Vom anderen Fensterbett wirst du gleich herzlich von einer ebenfalls bandagierten Hand begrüßt: „ “Ah, da kommt ja unser Hubschraubergast“. Den hat es stärker erwischt. Beim Rückwärtsfahren mit dem Gabelstapler hat er sich die Rechte zwischen Staplerdachstütze und LKW-Aussenspiegel zerquetscht. Vor zwei Wochen. Sechs Operationen bis jetzt, Gewebeverpflanzungen, der kleine Finger schon schwarz, knapp an der Amputation vorbei geschrammt, nach 14 Stunden-OP doch wieder durchblutet. Und bei dir? Spalter-Unfall. Bei der Wartung! Aber Glück im Unglück. Da, alle Finger bewegen sich noch. „Und deszweng homms die mit’m Hubschrauber hierher g’flogen?!“ Ein neidvoller Blick trifft dich. Er selber wär so gerne mit dem Hubschrauber geflogen. Stattdessen haben sie ihn vier Stunden lang mit dem Sanka von Eichstätt nach München gekarrt. Sediert, ohne Notarzt!

Warmer Zigarettenqualm steigt dir in die Nase. Außen vor dem gekippten Fenster hockt dein unmittelbarer Bettnachbar auf dem Balkon und raucht. Türke, wie du später erfährst, Gastarbeiter der ersten Stunde „Bin ich 69 Jahre von Türkei.“ Kahler Schädel, weiße Strähnen im Bart, Schleimbeutel aus dem Ellenbogen entfernt:“Schon zwei Mal.“

Diagonal gegenüber, bei den Schränken (einer für jeden Patienten, mit Schließfach), steht noch ein Bett. Offensichtlich bewohnt, aber leer. „Do liegt unsa Wandervogel drinnat.“ klärt dich Quetschhand auf. Ein Typ, Ende 50, mit offenem Fuß: „Do geht’s richtig tief rein, bei dem.“ Jeden Morgen nach dem Frühstück macht der sich sich aus dem Staub. Schaut ab und zu tagsüber kurz vorbei und kommt erst in der Nacht zum Schlafen wieder.

Auch der Blick der Stationsschwester, die jetzt gerade ins Zimmer kommt, fällt zuerst auf Bett #4: „Ist der Herr E. schon wieder unterwegs? Wann ist er gegangen? Um Neun, soso!“

Dann geht es dir an die Wäsche. Alles muss runter, auch Ohrring und Unterhose: „Isch schau nischt hin!“ Das wär momentan deine geringste Sorge, beschwichtigst du. Hätte dir heute Vormittag jemand gesagt, wo du ein Rendevouz am Nachmittag hast, hättest du dich fein herausgeputzt, aber leider kam dir ein Spalter dazwischen. Dafür streift sie dir nun ein Höslein aus Netzgeflecht über, was zwar dein Gemächt kompakt zusammenhält, Blicken und gewiss auch allen Körperflüssigkeiten bestimmt keinen Widerstand entgegensetzt. Dazu noch ein rückgeschlitztes Nachthemd und schon bist operationsfein hergerichtet.

Die eine Schwester geht, die nächste kommt, mit Klemmbrett auf dem Arm: Name? Adresse? Geburt? Beruf? Größe? Gewicht? Unfallhergang? Wartung! Akute und überstandene Krankheiten? Medikamente? Allergien? Prothesen? Lose Metallteile? Eventuell einen Splitter, wie du kürzlich erfahren hast. Letzte Mahlzeit? Spezielle Speisevorschriften, die du eventuell beachten musst? Eigentlich erlaubt dein Guru dir nur Räucherlachs, Kaviar, etwas Baguette (Vollkorn!) und Rotwein, doch da dies eine medizinische Ausnahmesituation ist, einigt ihr euch auf sprudelndes Mineralwasser als Ergänzung zur normalen Krankenhauskost. Die sich später als durchaus schmackhaft und üppig erweist.

All deine Habseligkeiten sollst du im Schrank verstauen,viel ist es nicht: Eine blutbespritzte Hose, ein fleckiges Sweatshirt und dazu hat dir die Nachbarin deine weiteste Hose (ohne Gürtel) sowie das einzige Paar Frauen-Turnschuhe, das im Flur zu finden war und dir zu klein ist, eingepackt. Dringend musst du Sohn #1 eine SMS schicken, dass er dir wenigstens ein paar Schlappen, Kopfhörer und Smartphone-Netzteil vorbei bringt – solange noch Saft im Akku ist.

Operation

Während des Abendessens – auf das du verzichten musst, nicht mal trinken darfst du – machen Schleimbeutel und Quetschhand dir Mut:“Wirst sehen, die flicken dich in Nullkommanix wieder z‘samm. Die sind schon gut hier. I soch imma: Sterben und danach auferwecken is des Beste!“ Dir wäre trotzdem eine Örtliche lieber. Vor der Vollnarkose ist dir ein bissl bang. Deine letzte hattest du mit acht oder neun Jahren, als du dir den linken Zeigefinger am Stacheldraht aufgerissen. Damals noch mit Äthermaske. Während du schliefst bist du auf einer großen bunten Stoffbahn vor einer riesigen Nähnadel davon gelaufen, die hinter dir unerbittlich in das Tuch hackte und immer näher kam. Das mag lange her sein, aber so was bleibt hängen.

Als dann endlich dein Fahrer kommt, bist du aber nur froh, dass es endlich weiter geht. Auf dem Weg zum Lift hält dich kurz die Stationsschwester auf: Zufällig hätte sie soeben deine Röntgenbilder gesehen. Es schaut gut aus, keine zwei Stunden wird die Operation dauern. Das könnt ich ihr glauben, sie macht den Job schließlich schon 18 Jahr.

Obwohl er heute bald schon 20 Kilometer in seiner zehn-Stunden-Schicht geschoben hat (36 km übrigens der persönliche Rekord), schlägt dein Fahrer ein flottes Tempo an: Rein in den Lift, runter in den Keller, raus aus dem Lift. Einen langen dämmrigen Flur entlang, zu beiden Seiten voll gestellt mit Gitterboxen. Allmählich fragst du dich, wo er dich hinbringt: Noch zur Operation oder schon in die Pathologie?

Schließlich wirst du in einem fensterlosen Raum, mit der Anmutung einer Betriebskantine, abgestellt. Ein junges Mädel in Straßenkleidung schneit herein. Schäkert kurz mit deinem Fahrer, knipst alle Lichter an, verschwindet wieder, kommt in grüner OP-Kluft zurück und klappert im Nebenraum geschäftig mit irgendwelchem Edelstahlzeugs. Das vermutest du jedenfalls, weil verbeultes Aluminium oder rostiges Blech hört sich anders an.

Da liegst du nun, starrst fröstelnd zur grauen Decke hoch und in dir gären leise Zweifel, ob du hier gut aufgehoben bist: Die klemmende Trage nach der Landung, dein nonchalanter Aufschneider, jetzt dieser Keller – also in der Schwarzwaldklinik ging’s immer anders zu. Auf alle Fälle wirst du darauf dringen, dass der Näsel seine Armbanduhr ablegt, bevor er Hand an dich legt.

Nach und nach kommt Leben in die Bude. Die Anästhesistin gesellt sich mit einem Klemmbrett zu dir: Alter? Gewicht? Größe? Krankheiten? Allergien? Medikamente? Prothesen? Lose Teile? Letzte Mahlzeit?

Sie will es bei dir zunächst mit einer lokalen Betäubung versuchen, den Plexus brachialis lahmzulegen. Erst wenn das nicht funktioniert oder die Sache länger dauert, kann man immer noch eine Vollnarkose nachschieben. Dir soll’s recht sein, hast eh keine Lust auf einen neuen Alptraum mit Nadeln.

Es tritt auf, der rundliche Oberbetäuber – Typ Koryphäe. Scheucht auch gleich die Schwestern rum und beordert dich in den Nebenraum unter die große Lampe. Mehrmals spricht er dabei von „Links“. Will dich unbedingt „Links“ positioniert haben. Vorsichtshalber fährst du ihm deshalb gleich in die Parade: „Moment Spezi! Rechts wird operiert, die Linke rührst du mir nicht an, gell!“ Aber er hat nur seine Arbeitsposition gemeint: „Bei Rechts von oben, bei Links von unten, damit ich immer mit Rechts arbeiten kann.“ Betet er den Schwestern vor. Bestimmt nicht zum ersten Mal, du kannst spüren, wie die ihre Augen nach oben verdrehen.

Mit deinem Arm wird er übrigens heute die Anästhesistin von vorhin in die Geheimnisse der Plexus-Betäubung einführen (deswegen nimmt er ausnahmsweise links Platz). Diese schmiert auch gleich deinen ganzen Oberarm mit Glibber ein, nimmt einen Ultraschallkopf in die linke und irgendwas Spitzes in die rechte Hand und wartet auf Anweisungen. So genau schaust du aber nicht hin, konzentrierst dich lieber auf die Blutdruckmanschette am linken Arm und die dunkelbraunen Augen der mundbeschützten Schwester die dort Wache hält.

Aber vor Oberbetäubers Stimme kannst du dich nicht wegducken: „So, nun halte die Nadel senkrecht! Senkrecht! Rechter Winkel! Jetzt stich zu! Zeig mir die Nadel!“

Eifrig lässt die Anästhesistin den Ultraschallkopf über deinen Arm gleiten während sie gleichzeitig darin herum stochert. Du dagegen freust dich auf die Momente in denen die automatische Blutdruckmanschette deinen linken Arm ganz fest zusammenpresst. Schmerz bekämpft man mit Gegenschmerz.

„Halt die Nadel senkrecht! Rechter Winkel! Senkrechter! Zeig mir die Nadel! Jetzt ein bissl zurück! Verlier sie nicht! Jetzt tiefer! Senkrecht halten! Jetzt drück rein!“

„Es geht nicht tiefer.“

„Doch, es geht! Drück fester! Fester! Senkrecht! Ganz fest! Gut! Aspirin, zehn Milliliter!“

Aspirin? Welch ein Wunderzeug! Nicht nur Kopfschmerzen, gar ganze Arme kann man scheint’s damit betäuben. „Aspirin? Wir verwenden doch kein Aspirin! Wir aspergieren! Klärt dich Obertäuber gereizt auf und meint damit das Hochziehen von Flüssigkeit in der Spritze, damit keine Luftblasen injiziert werden. Auf einmal fängt dein Arm wie wild zu zucken an, als hättest grad an einen Weidezaun gegriffen. Oberbetäuber nennt es stimulieren, ist irgendwie wichtig. Entfremdet dich und deinen Arm jedoch zusehends. „So, einen hamma!“ Einen? Von wie vielen?

Während sich die Schülerin auf die Suche nach dem nächsten Nerv macht, erfüllen plötzlich Verdis Aida-Fanfaren glockenhell den Raum. Ah, gibt’s nun doch klassische Musik im OP? Aber es ist nur des Oberbetäubers Handy: “Aida – äh Schwester X, Apparat Oberbetäuber! Was? Nein, kann grad nicht! Aha! Die Y lässt ausrichten, sie wär jetzt bereit.“

„Soll warten! Ich komm dann gleich. Zeig mir die Nadel….“

Und wieder die Fanfaren: „Drück sie weg!“

Irgendwann sind dann doch alle Nerven bestochen und nun heißt’s auf die Wirkung warten. Oberbetäuber macht sich vom Acker (vermutlich den Fanfaren hinterher), an seine Stelle treten Näsel und sein Assistent, Herr Oberarzt. Beide sich angeregt über die Zukunft unterhaltend: „Ich mein, die Stelle ist da … Jetzt haben sie schon zugesagt … Mündlich … Da können die jetzt nicht so einfach … Nein, sehe ich auch … können die nicht ….“

Ob dein Arm schon pelzig wird? Wirst du gefragt. „Ja, so mittel“ antwortest du. Und dass es beim Zahnarzt bei dir auch immer so lange dauert. Außerdem ist dir drecksfad. Etwas klassische Musik wär jetzt nicht schlecht. „Klassische Musik? Wir sind hier doch nicht in der Schwarzwaldklinik!“ Großzügig schüttet Oberarzt eine kalte Flüssigkeit über deine präparierte Hand und wischt mit einem Lappen kräftig an der Wunde rum: “Hau Uh!“ Ein scharfer Brennschmerz sticht dir durch Mark und Bein: “Halt! Moment! Der Arm gehört mir noch!“

„Also, so geht das nicht! Wir müssen die Wunde ja doch säubern!“ empört sich der Näsel. Die verführerischen blauen Augen der Anästhesistin tauchen in deinem Gesichtsfeld auf. Du gähnst. Ob du schon schläfrig bist? „Oh mei.“ Ob sie dir noch ein bissl was geben soll? „Och ja.“ Murmelst du und bist so müd…

Urplötzlich wirst du sanft gerüttelt, frau ruft deinen Namen: „Herr Jäger…“ Irgendein – Ding — wird dir aus deinem Schlund gezogen. „Ja, was is? Fangen wir jetzt an?“ Das unmaskierte Gesicht über dir schmunzelt – der Klassiker! Es ist schon alles erledigt, du liegst schon wieder gut verpackt im Nebenraum und schaust zur Decke. Und nun weißt du, was bewußt-los heißt: Keine Erinnerung, kein Alptraum, nichts! Und weil dein Verstand nicht fassen kann, was er nicht fassen kann, setzt er einen großen schwarzen Block zwischen vorher und jetzt. So wird vermutlich tot-sein sein. Alle wissen Bescheid, bloß du nicht! Gruselig! Viertel nach Zehn am Abend ist es jetzt. Eine Stunde und vierzig Minuten hat die Operation gedauert. Als schwerer Klotz liegt ein fremder Arm, frisch bandagiert, neben dir. Die Aufweckschwester telefoniert nach einem Fahrer, klimpert am PC, spielt mit dem Handy. Du liegst da, starrst zur Decke. Lüftlmalereien wären hier echt ein Fortschritt.

Zimmer 3.67

Halb vor Mitternacht bist du wieder auf dem Zimmer. Fahles Mondlicht scheint herein. Das Abendessen ist längst abgeräumt. Aber Hunger hast du eh keinen, nur Durst, seit dem unseligen Espresso nichts mehr getrunken. Die Nachtschwester stellt dir noch zwei Wasserflaschen (lebhaftes) und eineinhalb Schmerztabletten hin. Mit einer Hand, noch dazu der linken, einen fest verschweißten Schraubverschluss zu öffnen, ist eine Herausforderung. Aber du hast Zeit. Je länger es dauert, desto schneller vergeht sie.

Neben dir der Schleimbeutel schnarcht tief und so gewaltig, dass wahrhaftig das Wasser in deinem Plastikbecher zittert. Auch das ist eine Unterhaltung, wenn man keine Kopfhörer hat und der Smartphone-Akku zur Neige geht.

Irgendwann nach Mitternacht huscht plötzlich eine dunkle Gestalt ins Zimmer: „ N‘Abend, n‘Abend!“ murmelt’s leise. Macht sich emsig an Bett und Schrank #4 zu schaffen. Aha, der Offene Fuß kehrt heim. Unser Wandervogel. Ein untersetzter Münchner Vorstadt-Strizzi, dessen besten Jahre schon versoffen sind, huscht in Jim-Beam-T-Shirt und Slip ins Bad. Er kennt sich bestens aus hier. Und ist hernach auch gleich eingeschlafen – Profi halt.

Jetzt, wo du so da liegst, die Aufregung nachlässt, der Adrenalin-Pegel sinkt, deine Atmung im Rhythmus vom Schleimbeutels Säge schwingt, kommen die Gedanken, was wäre wenn: Dieses Hydraulik-Trumm ist mit einer solchen Wucht durch deine Hand gerauscht, das hätte dir auch ein oder zwei Finger, gar den Daumen, wegreißen können – ohne mit der Wimper zu zucken! Oder warum nicht beide Hände, rechts und links, dann tätest du hier liegen, mit zwei Stümpfen! Ein Schaudern packt dich, wie den Reiter über den Bodensee.

RdINacht

Als die Glocke vom nahen Kirchturm zweimal schlägt, beginnt es im rechten Arm zaghaft zu kribbeln, deine Hand kehrt zu dir zurück. Rasch ziehst du sie mit deiner Linken vor die Augen. Alle Finger lassen sich bewegen, nirgends ein taubes Gefühl. Ein unbändiges Gefühl von Glück schießt dir durch‘s Hirn. Voller Inbrunst küsst du jeden deiner Finger. Dieser Vorfall lässt dich und deine Hand wieder enger zusammenwachsen. Und ab jetzt wirst du gut und achtsam zu ihr sein!

Hartnäckig klingelt die Quetschhand nach der Nachtschwester, die nach einer Ewigkeit mit einem genervten „Ja, ja!“ erscheint. Sie greift sich eine Flasche aus seinem Bett und leert sie im Klo aus. So eine faule Sau, denkst du dir. Tagsüber springt er rum, aber dann in der Nacht lässt der feine Pinkel die Nachtschwester zum Pinkeln antanzen.

Kannst du dich noch erinnern, als du das letzte Mal im Krankenhaus geschlafen hast? Drei oder vier Jahre musst du da gewesen sein, als sie dir Mandeln und Polypen rausgenommen. Ein hell erleuchtetes Eingangsportal siehst du noch, ein Gitterbett und Petzi, den Teddybären, den du damals bekommen hast. Diesmal wird‘s wohl keinen Teddy geben, aber hoffentlich bringt dir Sohn #1 wenigstens sein Tablett vorbei.

Irgendwann dämmerst dann auch du endlich weg.

Sonntagmorgen zwischen Acht und Neun kommt wieder Leben in die Bude. Die Oberschwester kommt als erste und hängt jedem eine Flasche an die Vene. Verteilt Medikamente für den Tag. Vergeblich versucht sie Offenen Fuß zu wecken. Der tut ganz tiefe Atemzüge, doch du siehst seine Augen durch die nicht spaltbreit offenen Lider schimmern. Jetzt erkennst du auch, dass Quetschhand des Nachts noch immer voll verschlaucht und angekabelt ist: Drainage, Schmerzmittelpumpe, Überwachungsgeräte. Dies seit vierzehn Tagen – arme Sau! Trotzdem ist er der Hansdampf in diesem Zimmer. Schäkert mit allen Schwestern.

Auch der Schleimbeutel ist heute gesprächig: „Weißt du. Bin gekommen 69 Jahr Türkei. Immer Tiefbau. Ja, ja du lachen wegen meine Deutsch!“ Wendet er sich an Quetschhand, der von drüben rübergrinst. „Aber immer passt schon. Kollega nix besser. Immer alles verstehn. Firma Bauriedl. Chef gute Mann. Tochter erbt Kiesgrube. Mutter Unfall Kopf, dann plemplem. Große Baustelle. Komme Polier. Deine Graben gut. Aber Graben andere Firma nix gut. Machen alles neu.“

Wieder geht die Tür auf und eine kopfbetuchte Schwester schiebt das Frühstück herein: Kaffee, Orangensaft, Butterkäse, Bierwurst, Kaisersemmel, Hefezopf, Kompott. Und für den Schleimbeutel gibt’s ein paar Brocken Muttersprache obendrauf.

Allen teilt sie dazu den Speiseplan der nächsten Woche und ein paar Bestellkarten aus: „Wenn ich wiederkomm, ausgefüllt!“ Frühstück, Mittagessen, Tagesdessert, Nachmittagskuchen, Abendessen, Abendsalat. „Puh, wenn ich hier wieder rauskomm, bin ich fünf Kilo schwerer!“ Gemeinsam mit Quetschhand überlegst du, wie viele dieser Karten du wohl ausfüllen sollst. „Wenn‘s morgen dein Verband wechseln, kann‘s sein, dass‘d am Obend scho heim darfst!“ Er selber hofft auch drauf, dass er endlich raus kommt. Vermutlich wird sich‘s morgen entscheiden, ob der kleine Finger nochmal operiert werden muss. „ Des sech ich schon, ob ich ein Frühstück krieg oder nicht!“ Was das mit dem Frühstück zu tun hat? Will schnarrend nun der offiziell erwachte Offene Fuß wissen. „Wenn du operierst wirst, musst nüchtern sein, da kriegst vorher nix!“ „Nüchtern?“ Also er, der Offene Fuß, hätte ja schon etliche Operationen hinter sich: ,,Aber nüchtern war dabei noch nie! Wenn‘s mich g‘fragt haben, hab i immer g‘logen!“

„Dann pumpen‘s dir den Magen aus!“

„Auspumpen? Des hamm die bei mir noch nie!“

„Des machen die doch, wennst wegbeamt bist. Des spannst du nur, weil‘s hernach brennt beim Schlucken.“

Der Offene Fuß springt aus dem Bett und linst zum Fenster raus: „Kein schöner Morgen, heute morgen!“ und verschwindet im Bad. Sein brauner Verband am linken Fuß ist ziemlich fleckig und schaut nicht so aus, als wäre er seit seinem Eintritt schon mal gewechselt worden. Wie denn auch, wenn er nie da ist. Zurück aus dem Bad, macht er sich über das Frühstück her. Sein Handy klingelt: „Ja? Wo i bin? Ja im Krankenhaus! Wann? Warum nimmst nicht die Tram? Die Tram! Egal! Ruf an wenn du unten bist, dann komm ich zum rauchen runter.“

Es klopft. Eine schwarzhaarige Frau betritt das Zimmer. Klein, dürr, hohlwangig, die Augen in tiefen Höhlen, bunte Ballonseidenjacke, bunte Tasche. Vermutlich hat sie hat auch schon mal bessere Tage gesehen, besonders ihre Zähne. Offener Fuß ist überrascht: „Du bist schon heroben?“ Er zieht sich an, macht sein Bett. Gemeinsam beratschlagen sie: Die schmutzige Wäsche mitnehmen oder nicht? „Nimms mit! Waschma glei! Was ma hamm, hamma!“ Entscheidet die praktisch denkende Hälfte. Beide ziehen mit einer großen IKEA-Tasche ab. „Den sehen wir vor Mitternacht nimmer.“ Prophezeit Quetschhand. Er glaubt sowieso, der Wandervogel lässt sich nur deswegen über‘s Wochenende hier einweisen, damit er nicht woanders einrücken muss. In ein Zimmer mit gesiebter Luft.

Sohn #1 kommt zu Besuch. Bringt dir endlich ein Netzteil für‘s Smartphone, weiße Hotelschlappen für die nackten Füße und leiht dir für die nächsten Tage sogar sein Tablett. Bloß die Kopfhörer hat er vergessen. Also wieder keine Musik, kein Fernsehen. Gottseidank ist der Schleimbeutel grad wieder eingeschlafen und schnarcht. Doch die Stationsschwester beauftragt einen Patienten, der gerade nach unten geht, dir welche im Kiosk zu kaufen. Mit Gesprächen über deinen Unfall, den Flug, die Operation, das Krankenhaus vertreibt ihr euch die Zeit bis zum Mittagessen. Heute gibt‘s Burgunderbraten in brauner Soße, zwei Kartoffelknödel, gelbe Rüben, Obstsalat und Madeleine-Küchlein. Eigentlich gar nicht so schlecht, da hast du in mancher Kantine schon übler gespeist. Dummerweise nimmst du danach beim Kaffee Blickkontakt zum Schleimbeutel auf. Was jenen gleich zu einem endlosen Monolog ermuntert: „Bauriedl, Chef, gute Mann. Tochter erbt Kiesgrube. Aber Frau komisch. Kommst du mit Wagen in Firma, ist privat. Gehst du Büro Papiere. Was willst du in Stadt? Kriegstu Zwölfmarkfünfzig. Komme bald wieder! Aber passt scho! …“

Danach endlich Arztvisite, kein großer Auflauf, nur ein junger Spund, allein, mit Wägelchen, überhäuft mit Verbandszeug. Zuerst ein prüfender Blick auf Bett #4: „Ist Herr E. schon wieder fort? Wann geht er denn so? Wann kommt er für gewöhnlich wieder?“ Quetschhand gibt erschöpfend Auskunft. Zur Belohnung wird seine Drainage frisch verbunden und verklebt.

Entlassung

Naethe

Dann schneidet Spund deinen Verband auf, zieht den Mull von der Haut. Zum ersten Mal schaust auch du hin: Ein verschwollener Klumpen ist deine Rechte geworden, schwarz verschmiert von geronnenem Blut. Drei Nähte längs und quer ziehen sich zwischen Daumen und Zeigefinger durch, aus denen etliche schwarze Fadenenden sprießen, wie die Borsten einer Tagpfauenaugenraupe: „…tiefe Verletzung der Muskulatur des Thenars und M. adduktor pollicis ohne Verletzung der Digitalarterien und Nerven. Nach Aufsuchen des eingesprengten Fremdkörpers (Metallsplitter) … Muskel- und Fasziennaht mit Vicry 3.0. Hautnaht mit Ethilon 4.0 in Einzelknopfnahttechnik. …“ wirst du im Arztbrief dazu lesen. Dein postoperativ behandelnder Hausarzt ist später hell auf begeistert, ob der guten Arbeit des Kollegen Näsel. Auch dem Spund gefällt, was er sieht. „Es ist nichts weiter kaputt. Wenn Sie wollen können sie von mir aus gehen!“

„Wann?“

„Jetzt!“

„Ui!“

ich stell ihnen dann noch einen Arztbrief aus und die Schwester nimmt ihnen den Venenkatheter raus.“

Jetzt bist du platt, auch etwas misstrauisch: Warum will der dich so schnell loswerden? Aber egal, Hauptsache heim, ins eigene Bett, auf‘s eigene Klo (Geberit Dusch-WC).“ Gut, dass in diesem Moment Sohn #2 seinen Besuch ankündigt, der kann dich jetzt gleich zum Bahnhof bringen. Im blutbespritzen Sweatshirt, mit rutschender Hose, weiße Badeschlappen an den nackten Füßen, Plastikbeutel auf dem Schoß, sitzt du keine Stunde später im Zug nach Hause. Ungeduscht, erschöpft, aber glücklich, das Danach kann beginnen.

ArmerHund

Epilog

Ich danke allen Beteiligten ausdrücklich für ihre rasche und kompetente Hilfe sowie die professionelle Arbeit. Speziell auch den Nachbarn für ihre Geduld! Auch wenn es in manchen Passagen nicht so rüberkommt, habe ich mich zu jeder Zeit gut aufgehoben gefühlt – irgendwie. Du musst eines Bedenken: Für mich und die Nachbarn war es die große, plötzlich alles verändernde Katastrophe. Für die Sanitäter, Schwestern und Ärzte dagegen der Alltag, ihr täglich Brot. In meinem Fall sogar nicht mal besonders hartes. Und das ist auch gut so!

Abschied

Und wenn du mal ein paar Tage bei optimaler Verpflegung in einem Münchner Krankenhaus ausspannen willst — es gibt da scheint’s Möglichkeiten …

Infos:

www.binderberger.com/web/holzspalter/holzspalterstehend8-30t/28-h10-kombispalter

https://ils-oberland.brk.de/Links/rd

www.bgu-murnau.de/

http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Murnau

http://www.mri.tum.de/

www.drk.de/hilfe-in-deutschland/erste-hilfe/erste-hilfe-online/wunden/verbote-bei-wunden/

https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%A4hen_%28Medizin%29

Geschehen zu Altjoch, am 30. April 2016

Nachträglicher Nachtrag

Zwei Wochen später kamen die Fäden raus.

Nach vier Wochen  ist die Hand nun zu 80% verheilt und fühlt sich an wie die Larve vom Wepper Fritz —  alles spannt!

Ritt-über-den-Bodensee-Syndrom

Anfangs war ich froh und glücklich, dass ich so glimpflich davongekommen, aber je länger der Unfall zurückliegt, desto mehr sucht mich der Schrecken heim, was ich alles hätte verleiren können.

Merke: Schmiere kein unsteriles Melkfett in die offene Wunde!